Zehn Jahre Wiedervereinigung – eine Glosse

„Ja soll ich denn einen Krieg anfangen?“, hat François Mitterand seine Berater gefragt, als ihm dämmerte, daß er die Wiedervereinigung Deutschlands nicht würde verhindern können. Vielleicht war es der Gedanke an den Frühsommer 1940, der ihn davon hat Abstand nehmen lassen. Vielleicht auch hat ihn seine Geliebte in jenen Wochen zu sehr in Anspruch genommen, als daß er Zeit gehabt hätte für Aufmarschpläne (Ardennen? Schwarzwald? Oder über Belgien und Holland in die norddeutsche Tiefebene?) und mögliche Alliierte (NVA oder Rote Armee?). Bekanntlich hat Mitterand sich dann für den Euro entschieden.

Die Wiedervereinigung ist Geschichte, der Euro ist Gegenwart, und der 10. Jahrestag der Wiedervereinigung ist Zukunft. Wer hier stutzt und zum Taschenrechner greift (1990 + 10 = ?), kennt die Franzosen nicht. Die lieben sie nämlich mittlerweile, die Wiedervereinigung, und können deshalb deren 10. Jahrestag gar nicht oft genug feiern. Zum Beispiel Henry Fourès, Direktor des „Conservatoire National Supérieure Musique et Danse de Lyon“. Der hat letzte Woche den deutschen Musik-Medien in einer Presseerklärung stolz verkündet, daß dieses Jahr das Lyoner Konservatorium „in der glücklichen Lage“ sei, seine Broschüre in deutscher Fassung zu präsentieren. Das ist schön, gerade in einer Zeit, in der deutsche Institutionen alles daransetzen, jedes deutsche Wort aus ihren Mitteilungen zu tilgen.

Und da er das Deutsche und die Deutschen liebt, hat Henry Fourès für den 2. Oktober 2002 ein „Konzert zum 10. Jahrestag der Deutschen Einheit“ angekündigt. Was zum feierlichen Anlaß
gespielt werden soll, war leider noch offen, denn: „Programmation noch in der Erarbeitung“, wie es in glücklichem Deutsch heißt.

Da wahrscheinlich auch in Lyon gespart werden muß, böte es sich an, gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern Beethovens Neunte zu spielen und bei der Gelegenheit gleich noch andere Jubiläen abzufeiern, als da wären:
– 300. Jahrestag der Verheerung der Pfalz 1688,
– 25. Jahrestag der Begegnung Toni Schumachers mit Patrick Battiston bei der Fußballweltmeisterschaft 1982,
– 739. Jahrestag der Erfindung des Camemberts,
– und der 450. Todestag Adam Rieses wäre auch bedenkenswert.

Wem das zuviel Trubel ist, der kann am 1. September allein mit seinem CD-Spieler den 10. Jahrestag der Schlacht bei Sedan begehen – wahlweise mit der „Eroica“ oder dem Walkürenritt.
(Wolfgang Halder)